Was passiert mit Sylt im Klimawandel?
…und wieso behindert der Spinateffekt den Politikwandel?
Nach dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 12000 Jahren stieg der Meeresspiegel rapide meterweise wieder an, aber nachdem die großen Gletschermassen abgeschmolzen waren, waren es in den letzten 6000 Jahren im Mittel nur noch um 1 mm pro Jahr weiterer Meeresspiegelanstieg, im letzten Jahrhundert dann um 2 mm und in den letzten 25 Jahren im Mittel um 3 mm bei steigender Tendenz. Derzeit sind es 3,6 mm pro Jahr.
Dieser moderne, beschleunigte Meeresanstieg ist vorwiegend die Folge bisheriger Treibhausgasemissionen durch den Menschen. Die weitere Verbrennung fossiler Kohlenstoffe wird noch über Jahrtausende den Meeresanstieg antreiben. Nicht nur das Schmelzen von Landeis, sondern auch ein Abrutschen polarer Eismassen ins Meer ist in die Berechnungen einzubeziehen. Wann wie viel Eis ins Rutschen gerät, ist kaum berechenbar. „Langfristige Projektionen zum Meeresspiegel sind zwar sicher in Richtung und Höhe, aber nicht in Bezug darauf, wie langsam oder schnell der Anstieg kommt.“, sagt der Sylter Küstenexperte Prof. Dr. Karsten Reise in seinem Buch „Kurswechsel Küste“.
Sylt muss bereits seit Jahrzehnten permanent Küstenschutz betreiben, um die Orte des Bädertourismus, die um 1900 nahe des Strandes angelegt wurden, vor dem Abtrag zu schützen.Zwischen 1972 und 2020 wurden der Insel rund 60 Millionen qm Sand im Wert von rund 235 Millionen Euro vorgespült. Seit 2019 wird die Uferschutzmauer vor Westerland mit Beton für rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr verstärkt.
Der Umweltminister des Landes Schleswig-Holstein stellte 2019 klar, dass man die Folgen des Klimawandels auf Sylt bedenken müsse. Je weiter dieser fortschreite, desto schwieriger werde es, Maßnahmen zu ergreifen, da die Kosten ins Unermessliche steigen könnten und möglicherweise seitens des Bundes und des Landes nicht mehr zu bewältigen seien.
Prof. Karen Wiltshire, die stellvertretende Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts und Direktorin der Sylter Forschungsstelle Wattenmeer erklärt: „Kein Meer hat sich so verändert wie die Nordsee. Wir messen, dass sie sich doppelt so schnell aufheizt wie die globalen Ozeane“. Erwärmung bedeutet auch Ausdehnung des Wasserkörpers und damit Meeresspiegelanstieg. Wenn der Meeresspiegel weiter ansteigt „säuft“ das Watt ab. Wenn bei Ebbe keine Flächen mehr trocken fallen, kollabiert das ganze Ökosystem des Welterbe Wattenmeers, wie wir es heute kennen, vor allem in seiner Funktion als Drehscheibe des Vogelzuges.
Nach vorliegenden „Big-Data“-Computer-Modellen wird sich die Temperatur weiter deutlich erhöhen, und der Meeresspiegel bis zum Ende des Jahrhunderts um 1,2 Meter steigen. Die Insel Sylt wird dadurch sehr wahrscheinlich in mehrere Teile zerfallen (oder das wird mit massivem, teurem Küstenschutz verhindert werden müssen). Fast eine halbe Million Menschen und 3000 Quadratkilometer Wattenmeer sind allein im Norden der Republik dadurch bedroht.
Um dem entgegenzuwirken, schlägt Prof. Reise neben unverzüglichen Anstrengungen im Klimaschutz vor, Anpassungen an die kommenden Überschwemmungen zu realisieren. Am Festland sollten Polderdeiche geöffnet werden, um dem Meer kontrolliert mehr Raum zu geben, vor den Inseln sollte deutlich mehr Sand als bisher vorgespült werden, der sich gern mit der Strömung allmählich ins gesamte Wattgebiet verteilen darf, um hier den Meeresboden zu erhöhen.
Wesentlich früher als die Folgen des Meeresspiegelanstiegs, wird Sylt die Zunahme von Wetterextremen zu spüren bekommen. Die letzten Jahre waren bereits mit Hitzerekorden gespickt. Tendenz: Stürme werden häufiger und länger verweilen. Hurricanes der Karibik wandern bereits heute wegen der Erwärmung des Atlantiks viel weiter nach Osten als früher. Auch kann es zu heisseren Sommern und verregneten Wintern kommen, sicher keine optimalen Rahmenbedingungen für eine ganzjährigen Urlaubsdestination. Eine grossflächige „Verbrennung“ von atlantischer Dünenheide durch Sonneneinstrahlung und Trockenheit gab es bereits im Sommer 2018.
Der Wetterexperte Dr. Meeno Schrader meint dazu: „Dabei liegen die Ursachen für das, was wir heute beobachten und ertragen müssen Jahrzehnte zurück. Das hauptverantwortliche Verursachertreibhausgas CO2 hat eine Verweildauer von 150 Jahren. Dies läßt erahnen, was in Zukunft auf uns zukommt, selbst wenn es notwendigerweise gelingt die Emissionen signifikant herunterzufahren. Der Handlungsdruck eines massiven Umdenkens hin zu einer tiefgreifenden Veränderung unseres Konsumverhaltens nimmt exponentiell zu. Der Klimawandel erzwingt Anpassung, Entgegenwirken und große Solidarität.“(Diplom-Meteorologe, WetterWelt GmbH).
Obwohl die Prognosen düster sind, schaffen wir es auch in der Lokalpolitik nicht wirklich effektiv umzusteuern. Es liegen noch nicht einmal klare, aktuelle Bilanzen vor, wo diese Insel die grössten CO2- und Energie-Lecks hat. Die meisten Anstrengungen sind bislang eher kosmetischer Natur. Eine „Klimawoche“ und ein ReCup Becher-System ändert beispielsweise real noch nichts am Klimawandel.
Woran liegt diese „Lähmungserscheinung“? Möglicherweise, weil viele der Wissenschaft nicht mehr trauen? Schliesslich gab es schon immer Fehldiagnosen- man denke nur an die Sache mit dem Spinat, der lange Zeit als besonders gesund, weil als sehr eisenhaltig galt. Erst Jahrzehnte später wurde aufgedeckt, dass ein Wissenschaftler einen Rechenfehler diesbezüglich gemacht hatte und das Ganze nicht stimmt.
In Bezug auf die moderne Klimaforschung sieht es aber anders aus. Hier sind sogenannte Supercomputer am Werk, die umfangreiche Modellwelten erschaffen, bei denen die Forscher Parameter ändern können und so Zukunftsszenarien mit hoher Präzision entstehen. Diese Computer können ein sehr genaues Modell abbilden. Dass sich die Supercomputer mit Big Data verrechnen ist sehr unwahrscheinlich.
Wer darüber mehr erfahren will und weitere sehr anschauliche Erklärungen zur Klimaforschung sehen möchte wird hier fündig: Terra X
Lothar Koch