Naturschutz auf Sylt, Folge 5: MIND THE GAP: wer schliesst die Walschutzlücke?

Zeichnung Martin Camm

Schweinswal Phocoena phocoena, Zeichnung: Martin Camm

In einer Serie stellt die Naturschutzgemeinschaft Sylt und die Söl’ring Foriining das Thema „Natur auf Sylt“ in seiner ganzen Bandbreite in der Sylter Rundschau dar. Erschienene Artikel werden auf natuerlichsylt.net veröffentlicht und archiviert. Es werden Institutionen und Vereine vorgestellt und auch  Menschen, die sich für die Sylter Natur einsetzen.

In der fünften Folge gibt Lothar Koch, freier Biologe und Autor einen Überblick über das Walschutzgebiet im Nationalpark Wattenmeer vor der Insel.

 

 

Zum Sylter Walschutzgebiet – Geschichte und aktueller Status

MIND THE GAP!– Achtung Sicherheitslücke! so schallt es über die Lautsprecher der Londoner U-Bahn, wenn der Zug in den Bahnhof eingefahren ist. Zwischen Zug und Bahnsteig bleibt für die Ein-und Austretenden oft ein gefährlicher Spalt.

Ähnliches möchte man den Sylter Schweinswalen zurufen, wenn sie im Sommer mit ihren frisch geborenen Kälbern durch die warmen Priele direkt entlang des Sylter Strandes ziehen und Sandaalen nachjagen: MIND THE GAP!

Ja, es gibt eine Sicherheitslücke für die streng geschützte Tierart- trotz Walschutzgebiet. Und die ist 150 Meter breit und liegt genau entlang des Sylter und Amrumer Strandes.

Woran das liegt, erklärt die Entstehungsgeschichte des Walschutzgebietes.

Ein Blick zurück:

Die 1980iger Jahre waren  an der Küste von hitzigen Debatten um Wattenmeer- und Nordseeschutz geprägt. Ein jahrelanges Gerangel um die Idee, ein Großschutzgebiet als  Nationalpark im deutschen Wattenmeer einzurichten, brachte  Fischer, Jäger, Touristiker, Skipper und alteingesessenen Insulaner auf die Barrikaden. 1985 wurden in Schleswig-Holstein Kompromisse zwischen „Schützern“ und „Nutzern“ geschlossen, um das Vorhaben hier doch noch zu realisieren. Ein wesentlicher Punkt lag darin, dass sämtliche Inseln und große Halligen nicht Teil des Nationalparkes werden und die Grenze des Parkes 150 m seewärts  der MTHW-Linie von Inseln und Küste gezogen würde. Ökologisch unsinnig, aber politische Notwendigkeit.

Eine erste Novellierung des Nationalparkgesetzes stand knapp 15 Jahre später an. Das Landesamt für den Nationalpark hatte die Jahre genutzt, um das Großschutzgebiet im Detail zu erforschen. Die zahllosen Ergebnisse dieser Ökosystemforschung und weitere Streitereien um Nutzungsinteressen machten erhebliche Anpassungen im Gesetz erforderlich. Der sogenannte „150 Meter-Streifen“ blieb jedoch unangetastet, obwohl in Niedersachsen Teilflächen der Inseln inzwischen in den dortigen Nationalpark Wattenmeer integriert worden waren.

Meeressäuger rücken in den Fokus

In Schleswig-Holstein, insbesondere auf Sylt,  hatten Naturschützer während der Forschungsjahre ihren Blick über den „Tellerrand“ des klassischen Wattenmeeres, auf die offene Nordsee hinaus gerichtet. Der Grund war auch eine Epidemie unter den Seehunden, die 1988 bundesweit für drastische Empörung angesichts der sterbenden „Nordsee-Kuscheltiere“  gesorgt hatte. Allein vom Sylter Strand wurden rund 800 Kadaver in wenigen Wochen der Hauptsaison geborgen. Am Ende waren es 23 000 im gesamten Gebiet der Epidemie. Dies geschah gerade in dem Sommer, der einer Internationalen Nordseeschutzkonferenz in London (Herbst 1987) folgte, zu der sowohl die Natur-und Umweltverbände der Küste, als auch Gemeindevertreter und Nordseebäderverbände reisten, um gemeinsam für eine „saubere Nordsee“ zu protestieren. Das Seehundsterben wirkte demzufolge wie eine brutale Bestätigung all dieser Bemühungen um ein Müll- und schadstofffreies Hausmeer, denn die Seehundstaupe grassierte auf der Basis eines Tierbestandes, dessen Immunsystem durch enorm hohe Schadstoffwerte geschädigt war.

Das Augenmerk lag also ab jetzt mehr auf den Meeressäugern, statt auf den Vögeln und Wattwürmern. Als hätte diese Tiergruppe der Nordsee das Interesse wahrgenommen, rückten ab 1989 plötzlich zwei weitere Meeressäugetierarten in den Fokus, die bislang kaum eine Rolle in den Debatten um den Nationalpark gespielt hatten: Die Kegelrobben und Schweinswale. Der Fund einer kleinen neugeborenen Kegelrobbe im Winter 1988/89 an der Hörnum Odde war der Auftakt eines Kegelrobben-Schutzprojektes der Schutzstation Wattenmeer. Und wenige Monate später folgte ein Schweinswalprojekt.

Ein internationales Forschungsgutachten, das die Sorge um Kleinwale in der Nordsee zum Ausdruck gebracht hatte, sowie eine erhöhte Rate von Schweinswal-Totfunden an sylter Stränden motivierte den WWF, das Nationalparkamt und die Schutzstation Wattenmeer damals zur Herausgabe eines Zählbogens für diese bislang weitgehend übersehenen Meeressäuger. In den Folgejahren zog die Schutzstation Wattenmeer gemeinsam mit anderen sylter Verbänden eine Schweinswal-Synchronzählung auf, bei der vierzehntäglich an 20 festen Beobachtungspunkten entlang des Sylter Strandes gleichzeitig nach Walen Ausschau gehalten wurde. So entstanden die ersten belastbaren, statistischen Zahlen zum Kleinwaldbestand vor Sylt.

Inzwischen hatten rund um die Nordsee Walschützer und Universitäten ihre Forschungsaktivitäten in Hinblick auf die Kleinwale verstärkt. Das führte im Jahre 1994 zu SCANS, der ersten international koordinierten Erfassung von Walen in Nord-und Ostsee.

Das Ergebnis bestätigte die bereits von den lokalen Verbänden geäusserten Thesen: Vor Sylt schälte sich ein nordseeweiter „Hotspot“ für diese Tierart heraus, der eindeutig als „Kinderstube“, also Kalbungsgebiet identifiziert werden konnte. Damit landete die Verantwortung für den Schutz dieser Tierart in unseren nationalen Gewässern bei Schleswig-Holstein und letztendlich auch bei den Syltern.

Bald folgten weitere Forschungsergebnisse zu Seehunden, Kegelrobben, Hochseevögeln und Bodenorganismen des Sylter Riffs, die die Bedeutung des Seegebietes vor Sylt und Amrum für den Jahreszyklus zahlreicher Tiergruppen heraus stellten.

Die Forderung nach einem Walschutzgebiet wird formuliert

neue interaktive Infofotafeln am Walschutzgebiet auf Sylt

Info-Stele des neuen interaktiven sylter Walpfades/Foto:Koch

Info-Stele des neuen interaktive sylter Walpfades/Foto:Koch

Durch diese Fakten beschleunigt, wurden die Schweinswale zum Motor einer Forderung, die wenige Jahre zuvor niemand zu äussern gewagt hätte:

Stellt das offene Meer vor Sylt vorsorglich flächenhaft unter Schutz! Ziel: die Bewahrung als intaktes Rückzugs- Nahrungs-, Kalbungs- und Rastgebiet für Schweinswale, Robben und Hochseevögel.

Bislang war die Nordsee schliesslich nur als Badegewässer, Schifffahrtsstrasse und Fischereigebiet wahrgenommen worden. Die Gunst der Stunde wurde genutzt, mit der Novellierung des Nationalparkgesetzes im Jahre 1999 das erste europäische Walschutzgebiet, ausgerechnet vor Sylt und Amrum, auszuweisen. Als Bestandteil des Nationalparkes, erhielt es dann 2009 auch den Segen der UNESCO mit dem Siegel  „Weltnaturerbe“.

Kurz nach Einrichtung des Walschutzgebietes brach  das „Windhunderennen“ um die besten Bauplätze für Offshore Windparks los. Der zügigen Einrichtung des Walschutzgebietes  ist es zu verdanken, dass das Seegebiet vor unserer Insel bis zur 12 Seemeilen-Landesgrenze von vornherein dafür tabu war und wir auch in Zukunft keine Industrieanlagen in Strandnähe zu befürchten haben.

Alles gut- eine Erfolgsgeschichte des Naturschutzes, könnte man meinen, aber –

MIND THE GAP! Es gibt dennoch Gefährdungspotential für die Kleinwale und andere Nordseetiere:

– Die Meeresschutzgebiete des Bundes (FFH), die unmittelbar nordwestlich an das Walschutzgebiet des Landes anschliessen, wurden erst 2007 eingerichtet, Jahre nachdem der Windpark Butendiek schon genehmigt war. Der Windpark mit 80 Anlagen hat Bestandsschutz und steht etwa 19 Seemeilen entfernt der Insel. Er ist ein eklatanter Wermutstropfen im Vogelschutzgebiet „Östliche Deutsche Bucht“. Die Offshoreanlagen haben während der Bauzeit negative Auswirkungen auf die Schweinswale in ihrer Umgebung gehabt. Die Versorgung des Parkes mit sehr schnellen Transportschiffen, könnte sich permanent negativ auf die Schweinswale entlang der Schiffahrtsroute auswirken.

– Durch die Ausweitung des Nationalparkes bis zur 12 Seemeilenlinie hat sich die 150-Meter Klausel nicht aufgelöst. Der schmale Meeres-Streifen entlang der Strände, der von den Schweinswalen so gern genutzt wird, ist vor Sylt lediglich durch eine lockere Vereinbarung der Gemeinden geschützt, die hier den Einsatz von schnellen Flitzern, also Jetskis, Bananaboats, Rennbooten und ähnliches nicht dulden wollen. Vor eindeutig erkennbaren Badestränden bietet die Seewasserstrassenverkehrsordnung einen gewissen Schutz durch ein Tempolimit von 8 Knoten. Ausnahmeregelungen für Not-Einsätze und bei speziellen Regatten bleiben erlaubt.  Die Kontrollen sind dürftig und wer garantiert, dass diese Absprachen nach der nächsten Kommunalwal so bleiben?

-Untersuchungen, inwieweit sich schnelle Wasserfahrzeuge, also auch Kiter und Windsurfer auf das Verhalten von Walen und Walkälbern auswirken wurden bislang nicht in Auftrag gegeben. Demzufolge werden diese auch nicht im Walschutzgebiet reglementiert. Zu einer neuen Gefahrenquelle könnten neue motorisierte Wassersportgeräte werden, wie z.B. elektrobetriebene Surfbretter und andere Erfindungen dieser Art, die schnell Trendsport werden können und dann von Gemeinden kaum regulierbar sind.

– Das Walschutzgebiet mit einer entsprechenden Befahrensregelung ist als solches  bis heute nicht in die offiziellen Seekarten der Schiffahrt eingetragen worden. Dies soll nun dieses Jahr durch den dafür zuständigen Bund geschehen. Die neue Befahrensregelung bleibt im 150-Meter-Streifen jedoch unwirksam.Walschutzgebiet

Walgefährdende Fischerei ist im Walschutzgebiet bislang immer noch nicht gänzlich ausgeschlossen. Grund dafür ist die Zuständigkeit von Bund und EU hinsichtlich des Fischereirechtes. Das Land hat die Möglichkeit genutzt, walgefährdende Stellnetzfischerei bis zur Drei-Seemeilengrenze für alle und  bis zur 12 -Sm-Grenze für deutsche Fischer, zu verbieten. Die Internationale Fischerei kann jenseits der 3 Seemeilen Zone jedoch bislang national nicht eingeschränkt werden. Das wäre nur per EU-Verordnung machbar. Angeln und Stellnetzfischerei ist vom Strand aus weiterhin mit Lizenz erlaubt.

– Nach wie vor werden rund 100 Schweinswale pro Jahr tot am Sylter Strand geborgen-viele davon sind stark schadstoffbelastet und von Parasiten durchseucht. Deshalb müssen die Forderungen des Nordsees-Umweltschutzes weiter verfolgt werden.

– eine umfassende und angemessene Bürger-Information am Schutzgebiet blieb das Land Schleswig-Holstein der Insel bis zum Jahre 2016 schuldig. Nun soll im Frühjahr 2018 die Errichtung eines Sylter Wal-Indopfades mit hochwertigen interaktiven Stelen und Pulten direkt  am Gebiet abgeschlossen werden.

– nach wie vor fehlt ein umfassender Management- und Entwicklungsplan für das Gebiet.

– Eine ausreichende Kontrolle und Beforschung des Walschutzgebietes ist nicht gegeben.

Fazit: MIND THE GAP!

Einrichtung des Walschutzgebietes war die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt. Sie hatte keinerlei negative Auswirkung auf touristische Belange (im Gegenteil!) und notwendige Maßnahmen des Küstenschutzes. Es bleibt aber noch viel zu tun, um Sicherheitslücken für Kleinwale und andere Tiergruppen verlässlich zu schliessen. Ein Management-und Entwicklungsplan könnte helfen, vorsorglich die richtigen Maßnahmen zum Schutz des Meeresgebietes zu ergreifen. Das käme in jedem Fall auch der Insel zu Gute, denn gute ökologische Badewasserquälität und biologische Vielfalt ist ein wichtiges Kapital.

Ein guter Schritt, der Sylt glaubwürdig als „die Insel der Nordseeschützer“ auszeichnen würde, wäre  die Übernahme einer offiziellen und engagierten Schirmherrschaft der Sylter Gemeinden und ihrer Tourismuseinrichtungen für „Wal- und Meeresschutz im 150-Meter-Streifen“. Das könnte schnell zu einer Win-win Situation für Natur und Tourismus führen, wenn  die Schirmherrschaft mehr als ein symbolisches Markenzeichen würde.

Lothar Koch

der sylter Biologe und Buchautor  war als Verantwortlicher der Schutzstation Wattenmeer zwischen 1988 und 2003 federführend im Einsatz für das Walschutzgebiet. Heute engagiert er sich weiter ehrenamtlich für die Meeressäuger u.a. als Vorstandsmitglied im Freundeskreis des Naturerlebniszentrums für Naturgewalten/List.

Infokasten

Das Walschutzgebiet
– 1999 als Teil des Nationalparkes SH-Wattenmeer eingerichtet und erstes Walschutzgebiet Europas. Zuständig ist das Land Schleswig-Holstein.
– Es erstreckt sich über 1562 qkm von der Dänischen Grenze bis südlich von Amrum und bis zur 12 Seemeilen-Landesgrenze entlang der Inselstrände 150 m entfernt der MTHW-Linie.
Schweinswale
– stehen unter strengem Schutz des Anhang II und IV der Flora-Fauna Habitat-Richtlinie der EU
– stehen über das Bundesgesetz zum Schutz der Kleinwale in Nord-und Ostsee, dem Gesetz zum Schutz wandernder Tierarten und dem EU-ASCOBANS-Abkommen der Nord- & Ostseeanrainerstaaten unter Naturschutz- und auf der Internationalen und nationalen „Roten Liste für gefährdete Tierarten“.