Der Weg zum Walschutzgebiet- eine Erfolgsgeschichte im Naturschutz
Anlässlich des 25 jährigen Bestehens des grössten deutschen Schutzgebietes blickt Wegbereiter Lothar Koch zurück auf die Anfänge.

Hier geht es zum Video-Interview mit Lothar Koch: Der Weg zum Walschutzgebiet vor Sylt :
Das gekürzte Interview (8 min): https://youtu.be/SoLAANmpPVA
Das komplette Interview (16 min): https://youtu.be/3GcruIHZJSY
1985: Der Schweinswal, das unbekannte Wesen
„Die Schweinswale sind Syltern seit Jahrhunderten als kleine Tümmler oder Meerschweine bekannt. Ab Ende der 1960 Jahre jedoch, wurden bis ca. 1988 vor Sylt kaum noch Sichtungen und Totfunde registriert. In den achtziger Jahren erregte der WORLD WILDLIFE FUND (WWF) mit einer bei britischen Wissenschaftlern in Auftrag gegebenen Literaturstudie Aufmerksamkeit, in der auf einen Rückgang der Bestände und erhebliche Wissenslücken über die Tierart berichtet wurde. Inzwischen vermutet man, dass der Nordseebestand dieser Tierart damals um bis zu 90 % geschrumpft war. Wissenschaftliche Studien an lebendigen Walen in deutschen Gewässern gab es zu jener Zeit demzufolge nicht.
Die Tiergruppe „Wale“ wurde daher, auch seitens der Wissenschaft, nicht wirklich ernsthaft dem nationalen Tierartenkatalog zugeordnet. Forschungen an Cetaceen (Wale und Delphine) begrenzten sich in Deutschland auf Studien an musealen Knochenfunden dieser Meeressäugetiere und Kirchenchroniken über Walstrandungen. Aufgeschreckt durch Warnsignale des WWF im Jahre 1985 und aus der Wissenschaft äußerte die EUROPÄISCHE GESELLSCHAFT DER WALFORSCHER (ECS) auf ihrer ersten Konferenz im Jahre 1987 erstmals offiziell ihre Besorgnis um die Schweinswalbestände in nordeuropäischen Gewässern („Statement of concern“).
1988: Der Tod der Seehunde bringt Leben in den Meeressäugerschutz
Dann brach 1988 das große Seehundsterben mit über 23 000 toten Tieren über die Küsten der Nord-und Ostseestaaten herein und lenkte die Aufmerksamkeit auf den Schutz der heimischen Meeressäuger. Vor dem Hintergrund langjähriger Umweltschutzbemühungen in Nord- und Ostsee seitens zahlreicher Verbände, wie Greenpeace, Aktionskonferenz Nordsee, Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste, Naturschutzgesellschaft Schutzstation Wattenmeer und anderer, sowie dem seinerzeit ohnehin hochdiskutierten Thema Umweltverschmutzung, galt die massiv sichtbare Seuche unter den Nordseerobben als aufrüttelndes Warnsignal an die Politik, umgehend die Qualität der Hausmeere zu verbessern.
Bereits 1985 und 1986 waren an Schleswig-Holsteins und Niedersachsens Nordseeküste die Nationalparke Wattenmeer eingerichtet worden. Der Ausweisung dieser Schutzgebiete ging ein harter Diskussionskampf widerstreitenden Parteien voran (Fischern, Jägern, Bauern, Wassersportler, Tourismus versus Natur- und Umweltschutz). Fast alle Inselpolitiker zwischen Borkum und Sylt zeigten beim Thema Nationalpark wenig Begeisterung, weil sie Einschränkungen in der persönlichen Freiheit, dem Tourismus und beim Küstenschutz befürchteten. Das Seehundsterben änderte die Grundstimmung hinsichtlich des Meeresschutzes schlagartig. Plötzlich sammelten sich Entschlossene aus unterschiedlichsten Lagern, um etwas für „Ihre Nordsee“ zu tun. Zahlreiche Aktionen und Konferenzen folgten.
1989: Die Kegelrobben kehren zurück
Im Winter 1988/89 entdeckten Mitarbeiter der Schutzstation Wattenmeer in Hörnum eine kleine weiße Robbe am Dünenfuß der Südspitze Sylts. Bald stellte sich heraus, dass es sich um eine neugeborene Kegelrobbe im Lanugofell handelte. Bis dahin hatte, bis auf wenige Experten, keiner vermutet und gewusst, dass es neben den Seehunden auch Kegelrobben in diesen Gewässern gab. Meine Mitarbeiter und ich mussten also mühsam Informationen zu dieser „neuen“ Tierart zusammenholen. Wir reisten bis an die Britische Ostküste, um Genaueres über die Kegelrobben in der Meeressäuger-Forschungsabteilung der Schottischen Universität St. Andrews zu erfahren. An der schottischen Küste leben in großen Zahlen Kegelrobben auf vorgelagerten Felsen. Dort lernten wir, dass die Tiere, ganz anders als Seehunde, ihre Jungen im Winter zur Welt bringen.
Der Nationalpark Wattenmeer bekam also quasi eine „neue Tierart“, wenngleich später bekannt wurde, dass Knochenfunde von Archäologen die Anwesenheit der Tierart im Wattenmeer für das Mittelalter belegen.
Der Fund des Kegelrobbenjungtiers von Sylt war schon eine kleine Sensation, die kurz vor Weihnachten für viel Anklang in der bundesweiten Presse sorgte, eben auch, weil es nach all den Schreckensmeldungen vom Seehundsterben, einmal eine positive Nachricht in Zusammenhang mit Robben an unserer Küste gab. So wurde also der Blick von Naturschützern und Medien immer mehr auf die Meeressäuger gelenkt und es war kein Wunder, dass im Jahr 1990 auch der Schweinswal zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses geriet.
1990: Durchbruch für die Schweinswal-Forschung
Das Nationalparkamt, der WWF und die Schutzstation Wattenmeer hatten bereits 1989 Meldebögen zur Erfassung von toten und lebendigen Schweinswalen drucken lassen, um angesichts der seit 1988 ansteigenden Totfunde mehr Licht ins Dunkel der Schweinswalverbreitung zu bekommen. Wir verteilten die Fragebögen an Segler, Insulaner und Urlauber, um Zufallssichtungen zu registrieren. Bald zeigte sich, dass der Rücklauf von Sichtungen immer mehr wurde.
Mit Hilfe dieser Aktivitäten konnte allmählich ein Entscheidungsdruck in Richtung Wissenschaft und Politik aufgebaut werden. Ab 1990 war es dann soweit: Es wurden der Universität Kiel Bundesmittel für ein ein dreijähriges Forschungsvorhaben mit dem Titel „Untersuchungen über Bestand, Gesundheitszustand und Wanderungen der Kleinwalpopulationen in deutschen Gewässern“, bewilligt. Das Projekt stand unter der Leitung Dr. HARALD BENKEs von der Universität Kiel.
Unterdessen, überlegten wir von der Schutzstation Wattenmeer, wie die Sichtungsdaten noch hieb- und stichfester erfasst werden könnten. Angeregt durch ein ehrenamtliches Walzählerprojekt an der britischen Küste, rief ich die auf Sylt aktiven Naturschutzverbände und interessierten Einzelpersonen zusammen und kreierte die erste Wal-Synchronzählung an der deutschen Küste.
Dieses Projekt unterschied sich von den Urlauber-Meldebögen durch seine Systematik und den berechenbaren Aufwand. An zwanzig Standorten zwischen List und Hörnum postierten sich alle vierzehn Tage Walzähler. Zur gleichen Zeit wurden also alle sichtbaren Wale entlang der ca. 40 km langen Westseite von Sylt gezählt. Die Synchronzählung brachte zuverlässigere Daten als die Zufallssichtung und wurde über 10 Jahre zwischen 1991 und 2000 durchgeführt. Der Vorteil war offensichtlich: Obgleich Wissenschaftler das Projekt skeptisch beäugten, konnten so eine fundiertere Informationsarbeit und damit auch eine glaubwürdigere Pressearbeit gestartet werden. Die Aussage mancher Sylter, es würde dort nur ein einziger Schweinswal auf- und abschwimmen, der von Urlaubern immer wieder gezählt werden würde, konnte mittels der Synchrondaten beispielsweise leicht entkräftet werden. Auch konnten wir so beweisen, dass sich die Kleinwale hier rund um´s Jahr, aber in höheren Zahlen im Frühjahr und Herbst einstellen. Und das Wichtigste: dass ab Juni überwiegend Mutter-Kalbgruppen gesichtet wurden. Wir hatten es also hier mit einer Kinderstube der Kleinwale zu tun.
1992: Durchbruch für den europäischen Kleinwalschutz
Ich erinnere mich noch genau, wie ich im Frühjahr 1990 im Büro der Schutzstations-Holzbaracke vor einer alten rostigen Schreibmaschine vom Typ „Gabriele“ saß. Computer gab es damals hier noch nicht. Ich tippte mit Gabriele eine denkwürdige Pressemitteilung, Schlagzeile: „Schweinswale kalben vor Sylt“. Diese Meldung verbreitete sich aus der kleinen Naturschutzhütte über die Presseagenturen wie ein Lauffeuer über die Republik und stand am nächsten Tag in allen Zeitungen. Es war der Beginn einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit für „Deutschlands kleine Wale“.

Unser Sichtungsaufwand und unsere Pressearbeit, sowie Aktivitäten anderer Verbände, Ämter und Institute führten letztlich dazu, dass sich die EU dem Thema immer mehr annahm. Zahlreiche Anrainerstaaten unterzeichneten 1992 das Regionalabkommen zur Erhaltung der Schweinswale in Nord- und Ostsee (ASCOBANS). Gleichzeitig setzte die EU den Schweinswal auf Anhang II der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. In Anhang II werden Tierarten gelistet, für die Schutzgebiete ausgewiesen werden sollten. Ab 1994 bewilligte die EU weitere Mittel für die Schweinswalforschung. Dr. Harald Benke und seine Kollegen bekamen den Zuschlag für weitere Forschung an Kleinwalen in deutschen Gewässern und europaweit wurde mit internationaler Beteiligung das SCANS-Projekt durchgeführt. Dieses Kürzel stand für eine breit angelegte Synchronzählung von Walen in Nord-und Ostsee, die mit Schiffen und Flugzeugen umgesetzt wurde und vier Wochen lang, im Sommer 1994 in einer konzertierten Aktion ablief. Dabei wurde deutlich, dass sich die Kleinwale in der Nordsee nicht flächendeckend gleichmäßig verteilen, sondern vermehrt an bestimmten Bereichen sammeln, sogenannten „Hot Spots“. Auch wurden Kalbungs- und Paarungsgebiete ausgemacht. Dass dazu auch die Gewässer vor Sylt und Amrum gehören, wurde mit SCANS nun wissenschaftlich bestätigt, nachdem wir von der Schutzstation es ja schon einige Jahre zuvor gemeldet hatten. Im gleichen Jahr verabschiedete der Bundestag das erste „Kleinwalgesetz“, das die gesetzliche Grundlage zur Umsetzung des europäischen ASCOBANS-Abkommen in Deutschland legte.
1996: Die neue Schutzgebietsdebatte
Die politische Forderung, nach einem Walschutzgebiet vor Sylt und Amrum, wurde offiziell erstmalig 1996 auf einer Konferenz der Deutschen Kleinwal-AG formuliert, einem Zusammenschluss deutscher Wissenschaftler, relevanter Ämter und Naturschutzverbandsvertreter. Diese Forderung traf mitten in die hitzige Debatte um die Novellierung des Nationalparkgesetzes des Schleswig-Holsteinischen Wattenmeers von 1985. Als Grundlage für die Gesetzesnovellierung diente ein Ökosystem-Systemforschungsbericht, der die Forschung der vergangenen Jahrzehnte zusammenfasste und Verbesserungen anmahnte. Doch wieder gab es heftigen Gegenwind an der Küste zu dem Vorhaben, vor allem seitens der Fischerei und anderer Interessengruppen im Nationalpark. Auf Sylt war die Stimmung tendenziell jedoch pro Schweinswalschutzgebiet und Nationalpark. Westerlands Bürgermeisterin Petra Reiber und Vertreter des Landschaftszweckverbandes Sylt, ließen sich davon überzeugen, dass eine Ausweisung mehr Vor- als Nachteile für die insulare Entwicklung bringen würde.

1999: Europas erstes Walschutzgebiet ist besiegelt
Im Dezember 1999 war es nach einigen Jahren heftiger Auseinandersetzungen dann soweit: Im Zuge der Nationalparkgesetz-Novellierung wurde das erste europäische Schutzgebiet für Wale ausgerechnet vor zwei deutschen Nordseeinseln, nämlich Sylt und Amrum, ausgewiesen. Die unter Schutz gestellte Meeresfläche hat eine Größe von 124 000 Hektar (1240 qkm) und erstreckt sich zwischen der Dänischen Grenze und der Südspitze Amrums bis zur Zwölf-Seemeilen-Grenze als Zone 2 des Nationalparkes Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. Die offene Nordsee vor Sylt wurde so als ein wichtiges und schützenswertes Ökosystem aufgewertet, in dem neben den Schweinswalen auch Seehunde, Kegelrobben, Trauerenten, Stern- und Prachttaucher und viele andere bedrohte Meerestiere ein Refugium finden sollen. Dank einer jahrelangen, konzertierten und ausdauernden Aktion von Umweltverbänden, Naturschutzämtern und Forschungsinstituten ist heute deutlich geworden, dass die Nordsee nicht nur ein schönes Badegewässer und eine wichtige Fischereizone und Schifffahrtsstraße ist, sondern vor allem ein lebendiges, schützenswertes Ökosystem.
© Lothar Koch, Dünengrund 14, 25980 Sylt/Rantum, Tel:04651201088, info@syltopia.de